Deutsche Nachkriegswochenschau - ein Blog von Sigrun Lehnert

Konzeption, Symbolik, Zeit

Jahresrückblicke der Kino-Wochenschau

Sekt als Symbol für den Beginn des Jahres in NDW Nr. 48 vom 26.12.1950

Erinnerung als experimentelles Genre

Ebenso wie heute in Fernsehen, Radio und Presse – erstellten Wochenschau-Produktionsgesellschaften einen Rückblick auf besondere Ereignisse des vergangenen Jahres.

Darunter sind Ereignisse zu entdecken, die wir heute als ‚historisch‘ bedeutsam kennen – aber mindestens ebenso viele, die diesen ‚Status‘ nicht erreicht haben – nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Dies sind Themen, die zuerst aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen, dann aus der Erinnerung der nachfolgenden Generationen entschwunden sind.

Die Gestaltung der Jahresrückblicke der Neuen Deutschen Wochenschau variierte – als ironisch-kommentierter Überblick, von dem Kabarettisten Werner Fink begleitet (NDW Nr. 48, Jahresrückblick 1950) oder auch von Personen präsentiert, die sonst nicht vor die Kamera der Wochenschau treten: Karikaturen-Zeichner und Wochenschau-Sprecher (NDW Nr. 152, Jahresrückblick 1952); der Rückblick konnte ebenso als ‚Weltreise‘ oder ‚Rundflug‘ konzipiert sein – mit Ausschnitten der ‚wichtigsten‘ internationalen Ereignisse, die von ‚Kollegen‘ der ausländischen Wochenschauen genannt worden waren (NDW Nr. 413 Jahresrückblick 1957). Die Sektmarke ‚Henkell‘ steht offenbar für den Jahresanfang per se (vgl. Abb. aus NDW Nr. 48/1950).

Zu Anfang der 1960er Jahre wird die Gestaltung der Rückblicke gewagter und pikanter (in Bezug auf Gender-Rollenbildern) – bis zu Experimenten, durch Unterlegung von ernsten Themen mit Twist-Musik zu verdeutlichen, „welche Erinnerungen der Mensch in seinem Unterbewußtsein mit in das Neue Jahr hinübernimmt“ (Schriftwechsel zu Ufa-Wochenschau Nr. 335, Jahresrückblick 1962).

Während die in Hamburg produzierten Welt im Bild, Neue Deutsche Wochenschau, Ufa-Wochenschau und Die Zeitlupe in jedem Jahr einen Rückblick als gesonderte Ausgabe lieferten, war das bei der ostdeutschen Wochenschau Der Augenzeuge nicht immer der Fall. Die Rückblicke aus der DDR sind besonders durch den Ost-West-Vergleich bzw. sozialistisches vs. kapitalistisches System geprägt. Bekannte Kabarettisten wie Werner Peters (Der Augenzeuge Nr. 53/1954) werden auch hier für den Rückblick auf die Aufbauarbeit in der DDR und das Negativbeispiel des Westens eingesetzt und die Redaktion stellt sich selbst bei der Zusammenstellung des Rückblicks dar (wie in Nr. 52/1955).

In den Jahresrückblicken der NDW kamen nicht nur Bilder aus den Ausgaben des abgelaufenen Jahres zum Einsatz, sondern nachweislich auch solche aus den vorangegangenen Jahren. Bilder von rauchenden Industrieschloten, Hochhäusern, Atombomben-Explosionen sind auf diese Weise zu ‚Symbolbildern‘ wirtschaftlich-politischer Phänomene geworden. Die damals verwendeten Bild-Metaphern für Modernität, Wohlstand und (wissenschaftlichen) Fortschritt stehen heute für andere Entwicklungen, wie Umweltzerstörung und Klimawandel.

Das Jahr wird durch chronologische Anordnung, Aufrufen von Erinnerungsorten (vgl. Pierre Nora, 1984-1992) und thematische Rubriken neu geordnet. Ausgewählte O-Töne und musikalische Metaphern sowie intermediale Bezüge (z.B. durch die Einblendung von Zeitungsschlagzeilen) sollten die Erinnerung der Zuschauer anregen. Die Montage der Bilder, Einsatz von Überblendungen und Zwischenschnitten raffen die Zeit in der Narration. An der Wochenschau ist zu sehen, wie die Weise, wie Geschichten rückblendend erzählt und verstanden werden, von der Entwicklung der Medien abhängig ist (vgl. Astrid Erll, 2005).

Jahresrückblicke waren nicht die einzige Gelegenheit, die die Wochenschau zur Erinnerung an vergangene Ereignisse oder ganze Zeitabschnitte nutzte. Bei passender Gelegenheit wurde auf das Ende des zweiten Weltkriegs oder auf die Bedingungen unter der NS-Herrschaft ‚zurückgeblendet‘. Daneben wurden – ebenso wie heute – anlässlich von Jahrestagen Rückblicke erstellt, die Dokumentarfilm-Charakter aufweisen: mit Titeln wie „20 Jahre danach“– mit Bildern, die sich laut Kommentartext „dem Gedächtnis … eingeprägt haben“ (Deutsche Wochenschau, 1965, 34 min.) oder „10 Jahre DDR in Filmdokumenten 1949-1959“ (Progress-Film, 1959, 68 min.), hergestellt durch das Wochenschau-Team, mit den gewohnten Sprechern.

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